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Politologe Münkler: “Putin hat sich verkalkuliert, wir aber auch”

Europa könne sich nicht den Luxus leisten, nur mit demokratischen Staaten in Geschäftsbeziehungen zu treten, sagt der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler. Gerade bei Energie habe man es häufig mit autoritären Regimen zu tun.

Es ist ungemütlich geworden. Die bipolare Ordnung, in der die USA und Russland einander in einem Gleichgewicht des Schreckens gegenüberstanden, hat sich aufgelöst. Nun gibt es Schrecken gleich an mehreren Fronten, eine davon dicht an der Außengrenze der EU, in der Ukraine. Russland ist als ehemaliger Hauptlieferant von Energie für Europa zum Feind mutiert, mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht. Der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler beobachtet die Entwicklung nüchtern, aber auch mit Sorge. DER STANDARD sprach mit dem emeritierten Professor beim Kongress von Österreichs Energie in Villach.

STANDARD: Einer von Europas Schwachpunkten ist der Mangel an günstiger Energie, für die bisher Russland stand. Seit dem Einmarsch in der Ukraine ist es damit vorbei. Wie kann Europa im globalen Wettbewerb wieder an Stärke gewinnen?

Münkler: Langfristig wird man versuchen, grünen Wasserstoff von der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeers zu bekommen, wo die Voraussetzungen dafür gut sind. Kurzfristig läuft es auf eine starke Diversifizierung der Energiebezugsquellen hinaus. Dazu gehört eine neuerliche Hinwendung zu den Arabern, aus deren früherer Abhängigkeit – Stichwort Öl – man sich mittels Russlands ein Stück weit lösen wollte. Dazu gehören auch Versuche, aus Zentralasien das eine oder andere an Energie herzubekommen.

STANDARD: Energie zu bekommen ist das eine, günstige Energie zu bekommen noch einmal etwas anderes.

Münkler: Günstig ist das, was wir jetzt machen müssen, nicht unbedingt. Alle Anbieter wissen, in welchem Dilemma die Europäer stecken. Die werden nicht von sich aus sagen, wir verlangen von euch nur die Preise, die auch die Russen haben wollten. Den Energiepreis wird man nur dadurch etwas reduzieren können, dass man geschickt verhandelt.

STANDARD: Nicht jedes Land für sich, sondern die EU-27 als Block?

Münkler: Wäre vernünftig, wird aber nicht möglich sein.

STANDARD: Warum nicht?

Münkler: Weil zumindest einer, Ungarns Viktor Orbán, seine eigenen Wege geht. Und weil auch sonst eine Reihe von Ländern noch immer Energie aus Russland bezieht, darunter Österreich. Das Geschäftsmodell, das man relativ lange gefahren ist – wir bekommen von den Russen zu günstigen Preisen Erdöl, Erdgas und Rohstoffe, veredeln und exportieren diese in Form von Autos, Maschinen usw. in alle Welt –, ist so nicht mehr möglich. Auch wenn der Krieg in der Ukraine nach den US-Wahlen mit einem Waffenstillstand beendet werden sollte, wird man nicht mehr zu einem Honeymoon zurückkehren.

STANDARD: Wird man sich in Europa von der Vorstellung verabschieden müssen, Annäherung durch Handel oder Befriedung durch Geschäftstätigkeit seien bessere Alternativen als Abschottung?

Münkler: Wir werden nicht darum herumkommen, das, was wir in Europa an Energie brauchen und nicht selbst haben, von irgendwo zu bekommen, und sei es aus autoritären Staaten. Das wird sich eher verstärken als abschwächen, wenn man zum Beispiel auch an seltene Erden denkt.

STANDARD: In Europa wollte man lange Zeit nicht wahrhaben, dass Russland Energie als Mittel der Erpressung einsetzen würde.

Münkler: Diese Sicht leitet sich von der Vorstellung einer Weltordnung ab, in der militärische Macht immer mehr an Bedeutung verliert und wirtschaftliche Macht immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das kam den Europäern entgegen, weil sie wirtschaftliche, aber keine militärische Macht haben. Gleichzeitig hatten sie die Vorstellung, die Abhängigkeit ist eine, bei der sie, die Europäer, am längeren Hebel sitzen. Putin werde den Teufel tun, dieses Geschäftsmodell mutwillig kaputtzumachen, dachte man.

STANDARD: Was er dann doch getan hat?

Münkler: Putin wurde falsch als Homo oeconomicus eingeschätzt, der Nutzen und Kosten abgleicht. Dabei hat man ausgeblendet, dass sich Autokraten in hohem Maße durch Bewirtschaftung von Ressentiments an der Macht halten. Das hätte man sehen können. Putin hat immer an Zustimmung gewonnen, wenn er einen kleinen Krieg geführt hat, etwa in Georgien oder Tschetschenien. Vermutlich war auch die Erwartung von Putin eine andere, wie diese “spezielle Militäroperation”, wie das in seiner Diktion heißt, verlaufen würde, nämlich dass es rasch zur Unterwerfung der Ukraine käme. Das ist wegen des Widerstandswillens der Ukrainer nicht eingetreten. So gesehen hat sich Putin verkalkuliert, wir aber auch. Wir haben uns täuschen lassen.

STANDARD: Der Versuch der USA, den Bau der Ostseepipeline Nord Stream II zu verhindern, wurde weithin als durchsichtiges Manöver gedeutet: Die Amerikaner wollten uns Europäer von günstigem russischem Gas abschneiden und stattdessen ihr Frackinggas teuer verkaufen. War das ein kollektives Augenverschließen?

Münkler: Die Rechnung war und ist nach wie vor richtig. Was man unterschätzt hat, sind das Ausmaß der Abhängigkeit und die Bereitschaft der Russen, Energie als Waffe einzusetzen. Man hat durchaus nachvollziehbar argumentiert, dass schon früher, zu Zeiten der Sowjetunion, Geschäfte gemacht wurden und dass die Sowjetunion immer ein zuverlässiger Partner in wirtschaftlichen Fragen war. Was dabei übersehen wurde: Die UdSSR, wie sie bis 1989 bestand, war ein saturierter, imperialer Akteur. Russland ist kein saturierter Akteur.

STANDARD: Saturiert im Sinne von …

Münkler: … Landmasse. Man musste nicht davon ausgehen, dass die Sowjets bei nächster Gelegenheit einen Angriffskrieg gegen Nato-Gebiet oder einen neutralen Staat wie damals Jugoslawien führen würden. Sie hatten genug zu tun, ihr Haus zusammenzuhalten, siehe die Aufstände in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Die Sowjetunion war überdehnt. Von daher war klar, wenn sie Geschäfte machen können, machen sie die.

STANDARD: Die Balten, Polen und Ukrainer haben immer vor der Entwicklung gewarnt. Zumindest Polen und der Ukraine hat man unterstellt, sie handelten aus egoistischen Motiven, wollten die Umgehung ihrer Territorien durch Nord Stream II verhindern, um weiter an Durchleitungsgebühren für das russische Gas zu verdienen. Wer hatte recht?

Münkler: Es war eine Mischung aus begründeter Furcht vor den Russen und ökonomischem Eigeninteresse, wie das eben häufig so ist. Wie stark das eine war, wie stark das andere, lässt sich nicht sagen.

STANDARD: Wer hat versagt? Die einzelnen Länder, die so lange wie möglich am russischen Gas festhielten und im Fall Österreichs dies bis heute tun? Oder die EU-Kommission, die früher und energischer auf einem Boykott nicht nur von Öl, sondern auch von russischem Gas hätte bestehen sollen?

Münkler: Die Kommission ist eine Ansammlung nationaler Interessen. Das hat man auch jetzt bei der Zusammenstellung der neuen Kommission unter Ursula von der Leyen gesehen. Es ist eine Kompromissmaschine, aber selbst machtlos. Die Macht liegt beim EU-Ministerrat. Dieser hätte alles Mögliche beschließen können, aber nicht die Abkopplung von russischer Energie. Da wäre selbst Polen dagegen gewesen. Orbán hätte sowieso immer dagegengestimmt, Österreich auch, und ich nehme an, die Deutschen hätten ein betroffenes Gesicht gemacht und sich enthalten.

STANDARD: Gibt es aus Ihrer Sicht ein realistisches Szenario, in dem Russland wieder eine aktive Rolle als Energie- und Rohstofflieferant für Europa spielen könnte?

Münkler: Es gibt Leute, die meinen, wenn der Krieg in der Ukraine in irgendeiner Weise zur Ruhe gekommen ist, könnte man wieder an früher anknüpfen. Das halte ich für unwahrscheinlich.

STANDARD: Warum?

Münkler: Nehmen wir an, die gegenwärtigen Frontlinien werden eingefroren, und es gibt einen Waffenstillstand, der tatsächlich hält. Dann wird die Ukraine nachdenken, wie sie die verlorenen Gebiete wieder zurückgewinnen kann. Wenn Putin als Gewinner dieses Krieges hervorgeht, und das würde er wohl bei Einfrierung der Kriegshandlungen, dann könnten er und seine Leute sagen, das lässt sich auch wiederholen. Die Furcht, dass es dann irgendwann vonseiten Russlands wieder losgeht, weil irgendwelche ukrainischen Handlungen in Moskau als Provokation interpretiert werden, ist dann so groß, dass an eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse nicht zu denken ist.

STANDARD: Die Alternativen zu Russland sind wenig verlockend. Der Nahe Osten und Nordafrika, wo man sich Energie inklusive grünen Wasserstoffs sichern möchte, haben mehr oder weniger autoritäre Regime. Wird Europa sich auf dieses Spiel einlassen müssen?

Münkler: Die Zeit der Dirty Deals hat nie aufgehört, und sie werden jetzt in vermehrtem Maße sichtbar. Schauen wir uns Afrika an mit der langen kolonialen Vergangenheit. Die Franzosen haben darauf vertraut, dass ihre alten Bindungen zu den westafrikanischen Staaten und den dortigen Eliten halten. Dann gab es Militärputsche, und die Putschisten haben mitbekommen, dass die europäischen Erwartungen bezüglich Menschenrechten, einer lebendigen Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen das Ende ihrer Herrschaft darstellen würden. Dass sie sich für die russischen Söldner entscheiden würden, die früher Wagner hießen und jetzt ein bisschen anders, war klar. Die sagten, ihr könnt im Prinzip machen, was ihr wollt, wir schützen euch, ihr müsst uns nur folgen. Südlich der Sahelzone ist China der dominante Player geworden.

STANDARD: Was heißt das für Europa?

Münkler: Die europäische Vorstellung, wir nutzen die Sahelzone, um Migrationsbewegungen zu entschleunigen und zu kanalisieren, ist hinfällig geworden. Insofern stellt sich die Frage, wo die Sperrlinie ist, die man zum Schutz der EU-Außengrenzen aufbauen kann.

STANDARD: Wo könnte die verlaufen?

Münkler: Von Ägypten bis Marokko. Da gibt es schon Verhandlungen. Man möchte etwas Ähnliches zustande bringen wie das EU-Türkei-Abkommen, was aber viel, viel Geld kosten würde. Die Europäer sind erpressbar, das wissen die dort. Insofern wäre es sinnvoller zu sagen, wir schaffen so etwas wie eine äußere Peripherie der Europäischen Union und verankern sie wirtschaftlich und politisch.

STANDARD: Eine EU zweiten oder dritten Grades?

Münkler: Eine minimierte Mitgliedschaft. (Günther Strobl, 20.9.2024)

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